Barmelancholie

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Es regnet. Ist mir aber egal, denn: Ich muss heute nicht durch die Straßen irren und hoffen, dass ich jemanden zum Ablichten finde, sondern kann ganz einfach zu der Bar von gestern fahren, wo ich einen bereitwilligen Herren antreffen werde. Das ist cool. Ist das gecheated? Nö, oder? Ich kenne ihn ja gar nicht. Habe mich ihm nur kurz vorgestellt.

Als ich ankomme steht er schon am Eingang, vom Regen geschützt; am Rauchen. Ich glaube er war beim Friseur! Wir gehen rein. Ich weiß schon, wo ich ihn postieren möchte. Da ich kein künstliches Licht benutzen möchte, schlage ich vor, dass er sich direkt an das große Fenster am Eingang setzt. Ich bestelle eine Tasse Kaffee und wir fangen an zu plaudern. Währenddessen drücke ich hier und da auf den Auslöser. Mit der Zeit gewöhnt er sich immer mehr daran. Er erzählt von seinem Vieh. Was genau versteht man unter Vieh? Er hat auf jeden Fall ein paar Gänse, einen Hund und einen bösen Hahn. Letzterer scheint bissig zu sein, was ihm ein eigenes Adjektiv beschert hat. Die Gänse heißen wie seine Freundin und dürfen nicht gegessen werden. Es kam mal zu einem Unfall. Ein Notarzt musste kommen und sich um meinen Protagonisten kümmern. Der wiederum wollte nicht mit ins Krankenhaus gehen, da sich keiner um das Vieh kümmern würde. Der Notarzt fragte ihn dann, was ihm denn lieber sei: Sein Leben oder das Leben des Viehs. „Das Vieh ist mir wichtiger“, habe er da gesagt. Seine Freundin kann das bestätigen. Er geht sie holen und sie setzt sich dazu. Das ist leider kontraproduktiv, denn die zwei sind sich ständig am kabbeln. Leider ist das kein herzliches verliebtes Kabbeln, eins das irgendwie süß ist, sondern eher ein zankiges. Das lenkt den Herrn leider eher ab und manchmal schaut er dann etwas zu grimmig drein. Die beiden sind seid drei Jahre zusammen. Oder seit 20. Sie sind sich da anscheinend nicht so einig. Wir wollen da mal nicht so kleinlich sein.

Melancholie liegt in der Luft. Wahrscheinlich normal an einem verregneten Herbstag in einer Bar gegen 16 Uhr. Ich frage mich, wie weit ich mit meinem Bericht gehen soll, ob ich Namen nennen soll oder darf und wie genau ich ihre Geschichten wiedergeben soll. Tatsächlich geht es doch hier um ein Photo. Ein Photo eines Fremden, das den Moment einfängt. Normalerweise geht das immer ganz schnell. Dieses Mal verbringe ich fast eine Stunde mit meinem Motiv. Das heißt, ich habe diesen älteren Herren ein wenig kennen gelernt. Wir sind uns also nicht mehr komplett unbekannt. Das sollte man auf dem Photo erkennen.

Ich sollte mir öfter mehr Zeit geben. Vielleicht sollte ich versuchen mehr Bars ausfindig zu machen. Oder andere Tummelplätze für Senioren. Wo treiben die sich denn sonst so rum? Auf der Kegelbahn vielleicht …

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